Porträts der Roland Berger Experten

„Interessant ist, dass die Corona-Krise die Bedeutung der Digitalisierung und ihrem Beitrag zur Flexibilisierung des Geschäftsmodells frischen ­Rückenwind verleiht“, Christoph Steiger, Senior Partner bei Roland Berger (Bild links) „Klimaschutz oder besser der Megatrend Sustainability liefert wertvolle Impulse bei der Digitalisierung bzw. lassen sich einige Themen nur mithilfe der Digitalisierung abbilden“, Jochen Ditsche, Senior Partner bei Roland Berger (Bild Mitte) „Während in der ersten Phase der Digitalisierung die Optimierung der eigenen Wertschöpfungsprozesse im Vordergrund stand, sollte in der ­jetzigen die Priorität auf der Optimierung ganzer Lieferketten über Unternehmensgrenzen hinweg ­liegen“, Urs Neumair, Partner bei Roland Berger (Bild rechts) (Quelle: Roland Berger)

2013 fiel quasi der Startschuss für die Industrie-4.0-Bewegung. Seitdem hat die Digitalisierung viele Bereiche der Industrie erobert und verändert. Sie gilt als der Schlüssel zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung. Bitte geben Sie eine kurze persönliche Einschätzung zum aktuellen Stand der Digitalisierung im industriellen Umfeld?

C. Steiger: Nahezu alle Unternehmen haben in den letzten Jahren Anstrengungen unternommen, um ihren Absatz über digi­tale Vertriebskanäle zu steigern, ihre Prozesse zu automatisieren und ihre Arbeitsweise agiler zu gestalten. In vielen größeren Unternehmen wurden entsprechende Funktionen aufgebaut und unter anderem Chief Digital Officer (CDO) berufen – viele CEO haben zudem die Digitalisierung zur Chefsache erklärt.

Trotzdem beobachten wir bei vielen­ ­Kunden in der derzeitigen Phase eine gewisse Ernüchterung. Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Häufig wurden lediglich Randprozesse digitalisiert, während die größeren Hebel – aber auch die größeren fachlichen Herausforderungen – in den Kernprozessen liegen. Dadurch wurde die Digitalisierung oft als „Innovationstheater" gesehen, dem keine konkreten Erlösmodelle gegenüberstehen.
  • Zusätzlich haben sich noch keine dominanten Plattform-Modelle etabliert, die ein klares Bild von Industrie 4.0 im ­industriellen Umfeld geben. Wir befinden uns hier weiterhin in der Findungsphase.
  • Die internen Widerstände stellten sich als größer heraus als ursprünglich angenommen und die notwendigen Change-Management-Maßnahmen wurden vielfach vernachlässigt.

Diese derzeitige Phase der Ernüchterung ist zwar typisch in ­allen Transformationsprozessen, aber aufgrund der getätigten Höhe an Investitionen für die Unternehmen nicht hinnehmbar. Da teilweise die Ergebnisse nicht ausreichend sind, gilt es nun, das entsprechende Digitalinitiativen-Portfolio zu straffen, gegebenenfalls zu restrukturieren, sowie die funktionierenden Initiativen zu unterstützen und in die Skalierung zu bringen.

Es bleibt also weiter offen, ob Hyperautomation und Konzepte wie der Citizen ­Data Scientist, Digital Twins und Immersive and Augmented Experiences die ­Digitalisierung wirklich vollumfänglich ins industrielle Umfeld tragen. Außerdem fehlt es an notwendigen technologischen Grundlagen. Dazu zählen die breitflächige Verfügbarkeit von Mobilfunknetzen mit hoher Bandbreite, Lösungen für die fabrik- und firmenübergreifende intelligente Vernetzung von Maschinen und Anlagen – beispielsweise über industrielle Plattformen – sowie die weitere Ausgestaltung und Umsetzung notwendiger Standards und Austauschformate, wie OPC UA und TSN.

Interessant ist, dass die Corona-Krise die Bedeutung der Digitalisierung und ihrem Beitrag zur Flexibilisierung des Geschäftsmodells frischen Rückenwind verleiht: Digitalisierungsinitiativen, insbesondere in der Mitarbeitervernetzung, wurden quasi über Nacht umgesetzt. Hier gilt es nun, das Momentum zu nutzen.

Parallel zur Industrie-4.0-/Digitalisierungswelle trat in den letzten Jahren wieder verstärkt das Thema Klimaschutz auf den Plan. Wo sehen Sie Synergien und wo negative Beeinflussungen beider Themen untereinander?

J. Ditsche: Grundsätzlich ist es unserer Meinung nach so, dass Klimaschutz oder besser der Megatrend Sustainability wert­volle Impulse bei der Digitalisierung liefert bzw. einige Themen nur mithilfe der Digitalisierung abgebildet werden können.

Eine Kernidee der Digitalisierung ist es, Geschäftsprozesse zu verschlanken und zu automatisieren, physische Assets digital abzubilden (Digital Twins) und Prozessketten unternehmensübergreifend entlang globaler Wertschöpfungsketten ohne Brüche zu gestalten. Mithilfe digitaler Methoden, wie Big Data, Advanced Analytics und KI, lassen sich auf Basis der erhobenen Daten die physischen Prozesse simulieren und optimieren. Letztlich erlaubt dies, mit den eingesetzten Ressourcen, wie Materialien, Produkten, Anlagen, Fabriken und Energie, behutsamer und sparsamer umzugehen. Auf diese Weise trägt die Digitalisierung an vielen Stellen zum Klimaschutz bei.

Ein Beispiel aus der Energiewirtschaft: Strom aus Erneuerbaren Quellen kann nur dann grundlastfähig werden, wenn Wetterdaten umfassend digitalisiert erfasst und für die klimaorientierte Optimierung von Stromerzeugungsanlagen genutzt werden.

Unbestritten sind jedoch auch Punkte, die sich negativ beeinflussen:

  • Die für die Digitalisierung notwendigen Rechenleistungen und -zentren haben einen hohen Energiebedarf. Auch wenn Unternehmen, wie Amazon und Google, gezielt Strom aus erneuerbaren Quellen für ihre Rechenzentren verwenden, bleibt dies ein Bereich, woran in Zukunft noch zu arbeiten ist.
  • Digitalen Geschäftsmodellen liegt manchmal ein sogenanntes Überflussprinzip zugrunde, das heißt, Produkte werden so auf Plattformen aggregiert, dass sie nahezu kostenlos erscheinen (Beispiel: die Kosten für einzelne Lieder auf Spotify). In Kombination mit Assets, kann es hier zu negativen Auswirkungen auf die Umwelt kommen, wie man unter anderem bei den Leihroller- oder Leihfahrradanbietern sieht. Deren angebotene Fahrzeuge werden schlimmstenfalls in den städtischen Flüssen entsorgt. Das Gute: Man sieht solche Geschäftsmodelle noch nicht im industriellen Bereich.
  • Auch die häufig mangelhafte Entsorgung bzw. Wiederaufbereitung elektronischer Komponenten und deren Verklappung in Meeren und Flüssen von Entwicklungsländern hat schreckliche Auswirkungen auf unsere Umwelt.
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