Portrait von Karsten Schneider, Vorstandsvorsitzender von Profibus & Profinet International

Karsten Schneider ist Vorstandsvorsitzender von Profibus & Profinet International (PI) (Quelle: PI)

„Wir gehen von einem radikalen Umbruch im Fertigungsumfeld und damit auch einer Auflösung der Automatisierungspyramide aus. Dieser Umbruch wird bei Neuanlagen sehr schnell stattfinden“, sagt Stefan Schönegger, Vice President Product Strategy and Innovation bei B&R. Zum Hintergrund erklärt er: „Ursprüngliche Aufgabe der Automatisierungspyramide war es, eine ­Abgrenzung von dedizierten Systemen für bestimmte Aufgaben mit einem sehr kaskadierten Zugriff und Transport von Daten vorzunehmen. Zur Geburtsstunde der Automatisierungspyramide haben die damals vorhandenen technischen Gegebenheiten keine anderen Strukturen zugelassen.“ Die heutigen Möglichkeiten sind aus seiner Sicht jedoch deutlich umfangreicher und beziehen die IoT- und Informationstechnologien mit ein. Als Beispiele nennt er Plattformökonomie, Micro Services, Containertechnologie und Virtualisierung – aber auch deutlich leistungsfähigere Rechensysteme und neue Kommunikationsstandards, wie OPC UA und TSN. „Die einzigen Gründe dafür, dass an der Pyramidenstruktur weiterhin festgehalten wird, sind zum einen die Gewohnheit und zum anderen die bestehenden Anlagen, die noch einige Jahre am Markt ihren Dienst verrichten werden“, erklärt S. Schönegger weiter.

„Stand heute ist die Automatisierungspyramide ein gängiges Modell, um die unterschiedlichen Ebenen von den Devices im Shopfloor bis hin zu den Geschäftsprozessen im ERP zu beschreiben. Da wir auch in Zukunft sowohl Shopfloor-Devices als auch ERP-Systeme haben werden, halte ich die Diskussion über das ,Ableben‘ der Automatisierungspyramide für wenig zielführend“, ist hingegen die Ansicht von Thorsten Strebel, Vice President Products & Consulting bei MPDV. Was sich nach seinem Dafürhalten hingegen ändern wird, sind die Systeme, die man auf den einzelnen Ebenen finden wird. „Dort, wo heute noch das Manufacturing Execution System (MES) angesiedelt ist, werden bald plattformbasierte Lösungen und eine bedarfsgerechte Kombination von Apps zu finden sein“, erklärt er weiter.

„Wenn wir über die Automatisierungspyramide sprechen, müssen wir zwischen Automatisierung und Industrie 4.0 unterscheiden“, pflegt Bernhard Müller, Senior Vice President Industry 4.0 bei Sick, ein. Er verweist darauf, dass die Automatisierungspyramide beschreibe, wie Sensoren oder Feldgeräte über eine Maschinensteuerungsebene mit den darüber angeordneten Prozessleit-, Produktions- und Unternehmensebenen in Verbindung treten. „Um die Indus­trie-4.0-Funktionalität zu zeigen, muss die Automatisierungspyramide, die ihren Fokus auf ein­zelne Maschinen richtet, um Parameter ergänzt werden, die außerhalb von Maschinen liegen. Hier geht die Verbindung über die Kommunikation mit der übergeordneten Ebene hinaus. In der Maschine selbst werden Feldgeräte, sprich Sensoren und Aktoren, Informationen generieren, die außerhalb der Steuerung für den Automatisierungsprozess von Bedeutung sein werden“, so B. Müller.

„Die Automatisierungspyramide hat uns in den letzten Jahrzehnten gute Dienste erwiesen“, erinnert Karsten Schneider, Vorstandsvorsitzender von Profibus & Profinet International (PI). So habe sie in den Anfängen der Digitalisierung mit den Feldbussen für eine klare Struktur innerhalb der Fabriken gesorgt und so die Modularisierung erleichtert. „Eine Maschine hatte ihre eigene Sensorik und Aktorik und wurde über die Steuerung in die überlagerte Zellen- oder Anlagensteuerung eingebunden. Das macht auch große Installationen beherrschbar. Diese Aufteilung wurde natürlich von den unterschiedlichen Kommunikationssystemen unterstützt – Ethernet auf den höheren Ebenen (Leit­ebene und darüber), Feldbusse wie der Profibus darunter“, erklärt K. Schneider weiter. Mit dem Einzug von Industrial Ethernet in die Feldebene, zum Beispiel Profinet, sei der Feldbus allerdings als natürliche Trennung weggefallen. „Heute zieht sich vor allem in der Fabrikautomatisierung Ethernet durch alle Ebenen. Und auch in der Prozessautomatisierung breitet es sich zunehmend aus. Lediglich der Ex-Bereich macht den Einsatz von Feldbussen heute noch zwingend notwendig“, berichtet er weiter. Abhilfe sieht er hier im APL-Projekt, mit dessen Fertigstellung K. Schneider in zwei Jahren rechnet. Dann könne auch dieser Bereich durch Industrial Ethernet abgedeckt werden.

Als weitere aktuelle Aspekte nennt er zusätzliche Anforderungen und neue Geschäftsmodelle, die vor allem auf einer erhöhten Datenkommunikation beruhen. So würden heute nicht nur Maschinen ihre Qualitätsdaten an IT-Systeme senden, sondern zunehmend auch Feldgeräte. „Dementsprechend lassen sich Asset-Management-Systeme direkt aus dem Feld mit aktuellen Daten füttern, Condition-Monitoring-Systeme überwachen live Motoren, Pumpen oder andere Geräte und Predictive-Maintenance-Systeme können mit Cloudunterstützung arbeiten. Gehört die Automatisierungspyramide also zum alten Eisen oder stört sogar in der heutigen Zeit? Ich denke nein, denn die Frage der Beherrschbarkeit komplexer Anlagen ist heute aktueller denn je“, ist K. Schneider überzeugt.

Neue Strukturen

 „Zukünftig wird es sicherlich die eine oder andere Anwendung geben, die Daten direkt aus dem Shopfloor in das ERP oder in die Cloud überträgt. Dabei sollte aber immer nach dem Zweck und auch dem Nutzen gefragt werden: Was kann ein ERP beispielsweise mit Echtzeitdaten von einem Temperatursensor anfangen?“, gibt T. Strebel zu bedenken. Für ­wesentlich zielführender hält er es, die im Shopfloor erfassten Daten zu Erkenntnissen zu aggregieren, die dem ERP einen echten Mehrwert bieten. „Bisher haben beispielsweise MES wie Hydra von MPDV diese Aufgabe übernommen. In Zukunft wird es dafür Apps geben, die im Rahmen eines inte­grativen Ökosystems Daten erfassen, verarbeiten und bereitstellen“, so der MPDV-VP.

B. Müller verweist darauf, dass die Automatisierungspyramide  neu definiert werden müsse. „Unser Bild für die zukünftige Automatisierungspyramide besteht nur noch aus zwei Ebenen: Zum einen aus der Edge-Computing-Ebene, die auch eine Steue­rung beinhalten kann. Und zum anderen der Cloud-Computing-Ebene, die Informationen erzeugt, die für höherwertige Applikationen nutzbar gemacht werden können“. Dabei stuft er die Dimensionierung der Edge-Funktionalität als Realität ein. Diese habe dazu geführt, dass sich Anbieter von speicherprogrammierbaren Steuerungen um Edge Computing bemühen. „Dabei geht es darum, parallel zu diesen reinen Steuerungsaufgaben Antriebsaufgaben zu erledigen, die direkt in die Datenwelt reporten“, so B. Müller.

Diese beiden Statements unterstützt auch S. Schönegger und erklärt: „Im Fertigungsumfeld erlangen Edge Computing und Micro Services – nicht zuletzt aufgrund der Forderung nach Kostenoptimierung und Komplexitätsreduzierung – zurzeit weiter an Bedeutung“. Welcher Nutzen sich daraus für den Kunden ergibt, erläutert er wie folgt: „Ein Kunde kauft eine Hardwareplattform, zum Beispiel einen Industrie-PC oder ein Edge-Gerät, sowie die für ihn relevanten Services, zum Beispiel für Robotik-, Visualisierungs- oder Steuerungsfunktionen. Die Hardwareunterschiede liegen in der Rechenpower, der Speicherkapazität, dem Security-Umfang usw. Der Kunde hat die Wahl, auf welcher Hardwareplattform er seinen Service nutzen möchte.“ Er verweist zusätzlich darauf, dass ein Steuerungs­service auch in einer Public Cloud nutzbar sein könne – „auch wenn es sicherlich nur wenige Use Cases geben wird, die derart geringe Echtzeitanforderungen mitbringen“, gibt er zu bedenken. Den Weg der edgebasierten Maschinensteuerung verfolgt B&R schon länger und bietet entsprechende Lösungen an. Cloudbasierte Steuerungsservices stehen auf der Agenda.

„Zu Beginn haben wir die vorgefertigten Softwarebausteine unsere Mapp Technology stark auf Automatisierungsfunktionen ausgerichtet. Nun weiten wir diese auf IoT-Anforderungen aus“, berichtet S. Schönegger. So würden gerade im IoT-Bereich zunehmend Out-of-the-Box-Lösungen nachgefragt. „Dabei folgen wir auch hier dem Gedanken der Ready-to-Use-Pakete, damit Kunden die Funktionen schnell nutzen können.“ Ein gutes ­Beispiel sei Predictive Maintenance: „Dem Kunden lediglich entsprechende Algorithmen zur Verfügung zu stellen, würde neun von zehn Kunden vor ein unlösbares Problem stellen. Die Verfügbarmachung von Apps und einfachen User Interfaces für die Apps sehen wir als optimalen Ansatz“, gibt der B&R-VP an.

Kunden würden über die einfache Einstellung weniger Parameter Zugang zu leistungsstarken Werkzeugen wie Machine Learning (ML) gegeben. „Dabei ist es nicht unser Ziel, einen reinen ML-Baustein anzubieten. ML sehen wir lediglich als Basis eines kompletten Predictive-Maintenance-Bausteins. Mittels einfacher Parametrieroptionen sollen Kunden über diesen schnell an die für ihren Prozess relevanten Informationen gelangen. Damit adressieren wir Kunden, die keinen eigenen Data Scientist im Haus haben, aber dennoch von KI und ML profitieren und das Thema selbst angehen möchten“, sagt S. Schönegger.

T. Strebel verweist noch einmal auf die eigene Manufacturing ­Integration Platform, die mit ihrer offenen Plattformarchitektur die Basis für ein Ökosystem aus Standardfunktionen und individuellen Anwendungen für die gezielte Analyse der Daten und für die Steuerung der Produktion biete. „Manufacturing Apps (,mApps‘) unterschiedlicher Hersteller greifen auf ein gemeinsames digitales Abbild der Produktion – den sogenannten Digitalen Zwilling – zu. Dafür beinhaltet die MIP ein semantisches Informationsmodell und eine Vielzahl an standardisierter Basisdienste. Im Gegensatz zu vielen IoT-Plattformen verwaltet sie aber nicht nur Daten, sondern kreiert daraus ein für alle Apps nutzbares Abbild der Realität“, erklärt er und ergänzt: „Auf dem Weg zur Plattformökonomie bieten wir mit dem ,MW 4.0pe‘ eine Möglichkeit, unser MES Hydra zusammen mit der MIP zu betreiben. Damit ermöglichen wir Hydra-Anwendern einen sukzessiven Einstieg in das Ökosystem der MIP.“

Überleitung in neue Strukturen

„Sicherlich werden heute direkte Verbindungen aus dem Feld in die Cloud in modernen Anlagen genutzt. Diese ,umgehen‘ damit einzelne Stufen der Pyramide“, sagt er. Die Namur zeige jedoch mit der Namur Open Architecture (NOA), wie sich diese neuen Strukturen mit der klassischen Pyramide verbinden lassen. Zudem nutze Rami der Plattform Industrie 4.0 in den Hierarchy Levels nach IEC 62264 und IEC 61512 eine hierarchische Struktur ähnlich der Automatisierungspyramide.
„Es macht also durchaus Sinn, seine Anlage in einzelne funk­tionale Elemente zu teilen, allerdings bei Weitem nicht mehr so streng, wie es die Automatisierungspyramide nahelegt. Der Begriff Automation Pillars soll dem Rechnung tragen“, sagt K. Schneider.

Auch in der Kommunikation seien die Grenzen heute fließend. „Die Netzwerk-Infrastruktur wird zukünftig durchweg auf Industrial Ethernet basieren. Allerdings wird es auch auf der Protokollseite eine große Vielfalt für verschiedene Aufgaben geben“, lautet seine Überzeugung. Während Feldbusnachfolger wie Profinet vor allem die zyklische Echtzeitkommunikation zwischen Controller und Device abdecken würden, würde OPC UA zunehmend für die vertikale Kommunikation vom Device zum Beispiel in die Cloud, oder allgemein zu IT-Systemen, dienen. Ebenso wie die Machine-to-Machine-Kommunikation. „Dabei unterstützt TSN (Time Sensitive Networking) diesen Trend und erlaubt eine saubere Abgrenzung der einzelnen Applikationen auf dem Netz: Jede Anwendung bekommt die Ressourcen, die sie benötigt“, sagt der PI-Chairman. Zukunftsfähige Kommunikationssysteme müssten diesen Trend berücksichtigen und unterstützen. „Kann ein Protokoll nicht koexistent mit anderen im gleichen Netzwerk laufen, wird es künftig zunehmend zum Problem. Daher haben wir von Anfang an bei Profinet darauf geachtet, dass es sich zum Beispiel nahtlos mit OPC UA inte­grieren lässt“, erklärt K. Schneider.

„Aus unserer Sicht werden Kommunikationswege, die ohnehin schon zwischen physischen Feldgeräten und Steuerungseinheiten vorhanden sind, um zusätzliche, die direkt in die Datenwelt hineinreichen, ergänzt“, sagt B. Müller. Als Beispiele nennt er IO-Link und OPC UA. „Sie sind wichtige Kommunikationsstandards, um relevante Informationen in der Datenwelt zur Verfügung zu stellen“, zieht er als Fazit.

Hierzu ergänzt S. Schönegger: „Aus unserer Sicht wird sich zukünftig OPC UA over TSN als durchgängiger Kommunika­tionsstandard durchsetzen. Dieser hat mittlerweile Fuß gefasst und erlaubt den Brückenschlag vom Sensor in die Cloud.“ Zusammenfassend fügt er an: „Die genannten Aspekte sind aus unserer Sicht nur einige, die im Fertigungsumfeld zu neuen Strukturen und definitiv einer Auflösung der Automatisierungspyramide führen werden.“

„Bei der Automatisierungspyramide handelt es sich nach unserem Verständnis lediglich um ein Betrachtungsmodell. Und ganz unabhängig davon, ob es diese Sichtweise weiterhin gibt oder nicht, braucht die Fertigungsindustrie geeignete Anwendungen und Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Shop­floor und dem ERP-System“, sagt T. Strebel und zieht als Fazit für die MES-Welt: „Ich bin davon überzeugt, dass sich dafür plattformbasierte ­Lösungen sukzessive etablieren werden. MES werden entweder an den entstehenden Ökosystemen teilnehmen oder sich in viele kleine Apps auflösen. So oder so – Fertigungs-IT wird man immer brauchen.“

www.br-automation.com, SPS: Halle 7, Stand 114/206
www.mpdv.com, SPS: Halle 5, Stand 258
www.profibus.com, SPS: Halle 5, Stand 210
www.sick.com, SPS: Halle 7A, Stand 340

Inge Hübner

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