Grafische Darstellung von Ergebnissen einer FTI-Andersch-Untersuchung über Materialknappheit und Versorgungsengpässe

Ergebnisse von Teil 3 des Supply Chain Barometer 2022 von FTI-Andersch (Quelle: FTI-Andersch)

„In nahezu allen Bereichen im produzierenden Gewerbe passen Unternehmen ihre Beschaffungsstrategie an die neuen Gegebenheiten an“, sagt Florian Warring, Experte für Einkauf und Supply Chain Management bei FTI-Andersch, der auf Restrukturierung, Business Transformation und Transaktionen spezialisierten Beratungseinheit von FTI Consulting in Deutschland. „Die äußeren Umstände zwingen sie dazu: Von Kostenoptimierung zur Absicherung von Lieferungen, von maximaler Flexibilität zur langfristigen Verfügbarkeit von Waren, von globaler Arbeitsteilung zu lokaler Beschaffung und Produktion – Supply-Chain-Manager sind gerade dabei, die Grundprämissen ihres bisher erfolgreichen Handelns zu revidieren.“

Lediglich 15 % der befragten Unternehmen waren bereit, kurzfristig Preiszuschläge über Marktniveau zu bezahlen. Ausnahme: der Maschinen- und Anlagenbau. Dort haben 30 % der Unternehmen angegeben, Preiszuschläge über Marktniveau akzeptiert zu haben, um die Materialverfügbarkeit sicherzustellen. F. Warring erläutert: „Der Maschinen- und Anlagenbau mit seinen komplexen globalen Lieferketten ist ein gutes Beispiel für die hohe Abhängigkeit von Lieferanten und Vorlieferanten. Darum macht es für die Endproduzenten durchaus Sinn, situativ zunächst Preisaufschläge zu akzeptieren und damit die gesamte Lieferkette zu stabilisieren. Langfristig kann das aber nur funktionieren, wenn diese Preisaufschläge auch an die Endabnehmer weitergegeben werden können. Und gleichzeitig die strategische Frage beantwortet wird: Wie lassen sich zukünftig die Abhängigkeiten in den Lieferketten dauerhaft reduzieren?“

Unternehmen mit langfristiger Perspektive im Vorteil

Mehr als acht von zehn Unternehmen (85 %) arbeiten laut der Befragung gerade am Aufbau neuer Lieferantenbeziehungen als Reaktion auf die vorhandenen Abhängigkeiten und den sich draus ergebenden Lieferengpässen. „Keine leichte Aufgabe, wenn alle gleichzeitig das Gleiche planen“, sagt F. Warring. Zur Gewinnung neuer Lieferanten nutzen die befragten Unternehmen folgende Instrumente: 74 % sagen feste Abnahmemengen zu, 72 % verhandeln langfristige Lieferverträge, 66 % arbeiten an der Etablierung strategischer Partnerschaften, mehr als die Hälfte (55 %) will frühere Lieferantenbeziehungen reaktivieren.

„Der Wettbewerb ist immens, allerdings haben Unternehmen gar keine andere Wahl, als sich diesem jetzt zu stellen“, so F. Warring. „Wer bereits in der Vergangenheit auf Multi-Sourcing gesetzt oder zumindest gute Beziehungen auch zu Nicht-Lieferanten aufrechterhalten hat, ist aktuell natürlich klar im Vorteil. Und auch Kreativität und neue Ansätze werden jetzt benötigt, vor allem wenn der Aufbau von Neulieferanten am Ende nicht gelingt.“

Dazu gehört die Vertiefung der aktiven Lieferantenbeziehungen. Daran wollen 72 % der Unternehmen arbeiten. F. Warring sagt: „Wer jetzt strategische Partnerschaften etablieren will, der muss sich in die Lage des Lieferanten versetzen: Was benötigt dieser wirklich? Woran hat er Interesse? Welche Möglichkeiten von Technologiepartnerschaften gibt es? Welche Stakeholder aus meinem Netzwerk können ihm weiterhelfen? Es gilt, die Idee von Partnerschaft über vertragliche Details, Preise und Lieferzeiten weit hinauszudenken. Auch Einkaufsallianzen, mit Ausnahme von Hilfs- und Verbrauchsmaterialien vielfach verpönt, können eine neue Option für Unternehmen sein.“ 

Gründe und Strategien für Insourcing 

Noch komplexer als der Aufbau neuer Lieferantenbeziehungen stellt sich laut FTI-Andersch die (Wieder-)/Integration relevanter Produktionsschritte ins eigene Unternehmen dar, auch ‚Insourcing‘ genannt. „Wer Insourcing betreibt, will in den meisten Fällen primär nicht den Preis weiter optimieren, sondern künftige Risiken vermindern“, sagt Philipp Oemler, Director und Experte für Operations bei FTI-Andersch. „Politische Instabilität, komplexe Logistik, ökologische Unwägbarkeiten – viele Unternehmen schätzen das Chancen-Risiken-Verhältnis ganz neu ein.“

Um Insourcing zu forcieren, schaffen 72 % der Unternehmen neue Maschinen und Werkzeuge an und setzen auf Leiharbeiter. 59 %  wollen zusätzliche Mitarbeiter rekrutieren (67 % sehen den Personalmangel in diesem Kontext als große Herausforderung an), 45 % passen Design und Konstruktion an, 34 % dehnen den Schichtbetrieb aus und 29 % setzen im Gegenzug auf Outsourcing weniger kritischer Komponenten. Vor allem im Maschinen- und Anlagenbau wollen dies 46 % der Unternehmen umsetzen. 

P. Oemler sagt: „Die größte Herausforderung beim Insourcing ist das Fehlen von qualifiziertem Personal am Arbeitsmarkt. Ebenso bereitet es den Unternehmen Probleme, dass mit jedem zurückgeholten Produktionsschritt die eigene Flexibilität sinkt und damit letztlich vielleicht auch unprofitable Aufträge zwecks Auslastung der Fertigungskapazitäten angenommen werden müssen. Zuletzt: Es bedarf einer sauberen Analyse der Effekte des Insourcings, denn zu breit angelegt kann es die bisherigen Zulieferer schnell in eine Schieflage bringen – und darum ein wirtschaftliches Ecosystem mit all seinen Abhängigkeiten in Gänze bedrohen.“

„Insourcing muss darum vor allem fokussiert stattfinden“, sagt P. Oemler. „Wir empfehlen Unternehmen, die wirklich relevanten Bestandteile ihres Produktportfolios und die dafür benötigten Kernkomponenten auf sachlicher Basis jetzt neu zu definieren. Und dann Komponente für Komponente in allen relevanten Dimensionen zu bewerten, was ein Insourcing bedeutet und ob es überhaupt sinnvoll durchführbar ist. Ansonsten drohen die Führungsetagen nach Jahrzehnten erfolgreicher Globalisierung die eigene Organisation und ihr gewachsenes Ecosystem zu überfordern. Und damit provozieren sie nahezu zwangsläufig strategische Fehler, die die Überlebensfähigkeit der Unternehmen in den nächsten Jahren deutlich verringern wird.“

„Vorstände und Geschäftsführungen müssen dafür sorgen, dass sowohl im Lieferantenmanagement als auch in der Verlagerung von Produktionskapazitäten und -prozessen das Pendel nicht zu sehr von einem Extrem ins andere schwingt“, ergänzt F. Warring. „Was kurzfristig erforderlich ist, muss langfristig auch strategisch eingeordnet und bewertet werden. Diese Zeit der Knappheiten und Versorgungsengpässe sollte nicht dazu führen, dass Einkäufer und Supply-Chain-Manager eine ganz wesentliche Aufgabe aus den Augen verlieren: nämlich die Margen des Unternehmens durch kostenoptimale Beschaffung positiv zu beeinflussen. Diese über die letzte Dekade so relevante betriebswirtschaftliche Funktion muss jetzt ein Stück weit adaptiert werden, darf aber nicht vollständig aufgegeben werden. Dafür bedarf es strategischen Weitblicks.“

FTI-Andersch (ih)

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