Jens Müller gibt unter anderem Tipps, wie vor allem KMU konkret vorgehen sollten, um bei einem Retrofit auf der sicheren Seite zu sein. (Quelle: Laura Boysen Fotografie)
Kontrolliert wird das aber nicht automatisch von irgendeiner Behörde?
J. Müller: Nein. Im Grunde ist es wie bei einer roten Ampel. Wenn man bei Rot geht und kein Querverkehr kommt, passiert nichts. Nähert sich in diesem Moment ein PKW, sieht das anders aus. Und genau das ist das Ding: Bei Betreibern ist mit Blick auf die Gesamtbewertung der Maschinensicherheit kein klassischer Prüfzyklus etabliert. Es sollte jedoch das Eigeninteresse jedes Betreibers sein, seine Maschine auf dem Stand der Technik zu halten. Die Norm ist der Stand der Technik, auch wenn – bis zum Eintreten von Fall xy – nicht überprüft wird, ob ich mich an sie halte.
Wie lautet Ihre Empfehlung: Wie können vor allem KMU konkret vorgehen, um bei einem Retrofit auf der sicheren Seite zu sein?
J. Müller: Man kann vieles in Eigenregie umsetzen, sollte jedoch folgende Punkte beachten: Wenn Sie etwas umbauen, prüfen Sie alle einzelnen Schritte und entscheiden dann erst, ob Sie das Projekt wirklich selbst umsetzen können. Stellen Sie sich die Frage: Habe ich einen Technikprofi in meinen Reihen, der sich um die leidigen Themen formeller Ablauf, Risikobeurteilung, Betriebsanleitung usw. kümmern will? Machen Sie sich bewusst, dass auch die Risikobeurteilung auf Normen und Richtlinien basiert, die sich fast wie ein Gesetzestext lesen. Für einen Maschinenbauexperten, kein Problem. Doch als Laie fällt es wirklich schwer, herauszufiltern, was wirklich wichtig und zu tun ist.
Welche Vorgehensweise würden Sie Maschinenbetreibern raten, wenn es darum geht, sich mit der neuen MVO auseinanderzusetzen?
J. Müller: Die Verordnungstexte sind auf EUR-Lex frei verfügbar. Allerdings lesen sie sich in der Tat wie 100 Seiten reiner Gesetzestext. Da muss man schon ein Faible haben, wenn man sich da reinfuchsen will. Ich würde deshalb sagen: Der beste Startpunkt ist, wenn ich eine konkrete Idee für die Umsetzung eines Retrofits habe. Wir haben jetzt Sommer 2024 – bis Januar 2027 ist also wirklich noch Zeit. Es macht aber einfach schon jetzt Sinn, sich zu informieren über die Unterschiede zur aktuell geltenden Richtlinie und die wichtigsten Neuerungen. An einem konkreten Projekt kann man das am einfachsten erklären.
Was passiert, wenn ein KMU einen Retrofit machen will, dann aber feststellt, dass es diesen Weg – vor allem auch bezogen auf die neue MVO – nicht umsetzen kann?
J. Müller: Die Praxis zeigt, dass es nicht unüblich ist, dass Unternehmen weder die Ressourcen noch das nötige Know-how in ihren Reihen haben. Und für langwierige Schulungen ist auch keine Zeit vorhanden. Deshalb macht es aus meiner Erfahrung Sinn, sich für ein konkretes Projekt externe Unterstützung zu holen. Ganz im Sinne von Learning by Doing. Zu Beginn einer Kooperation kann sich dann auch herausstellen, dass der Betreiber das Projekt doch autark erarbeiten kann. Wir arbeiten da im Rahmen des Safety Dialogs wirklich ergebnisoffen.
Können Sie kurz erläutern, wie so ein Safety Dialog abläuft?
J. Müller: Unter die neue MVO fallen eine Hubeinheit oder ein Kompressor ebenso wie eine Roboteranlage. Das ist ein Riesenspektrum. Genau das ist der gute Grund für eine Beratung oder Begleitung im Rahmen von Safety Dialog, der beispielsweise über die Conrad Sourcing Platform gebucht werden kann. In einem vierstündigen Gespräch – entweder vor Ort oder online – klären wir zunächst, was der Betreiber vielleicht selbst umsetzen kann und wo er ggf. Unterstützung benötigt. Als zertifizierte ISO- und EU-Sachverständige für Maschinensicherheit und Arbeitssicherheit unterstützen wir ganzheitlich angefangen von Herstellerpflichten (CE-Kennzeichnung) bis zu Betreiber (Arbeitssicherheit). Wir zeigen dabei die Mindestanforderungen auf, um ein „Overengineering" zu vermeiden. Natürlich kann man 100% Sicherheit in eine Maschine integrieren, aber dann ist sie nicht mehr handhabbar.
Raten Sie zu einem ersten Online-Gespräch oder macht ein Vor-Ort-Termin mehr Sinn?
J. Müller: Gerade mit Blick auf Retrofit, Neuinstallation oder Umbau lässt sich vieles erst vor Ort klären. Für eine 10 Jahre alte Maschine gibt es zwar einen Elektroplan, das ist aber darüber hinaus vielleicht schon zwei oder drei Mal etwas umgebaut, aber nicht dokumentiert worden. In einem ersten Schritt geht es darum, herauszufinden, welche Normen für mich relevant sind. Hier kann ein Profi echt hilfreich sein. Zwar bekomme ich die Übersetzungen online, das Ganze ist aber wirklich sehr technisch und ein 1:1 Einblick ist aktuell nicht möglich und mit Kosten verbunden – Tendenz vierstellig. Die nächste Challenge ist der Inhalt der Norm und die damit verbundene Frage: Kann ich diesen 1:1 transferieren und klar sagen, das ist in Ordnung und das nicht? So einfach ist das leider meistens nicht.
Was ist Ihre Erfahrung: Gibt es in KMU etablierte Verantwortliche zum Thema Maschinensicherheit?
J. Müller: In der Regel nicht. In KMU kümmert sich häufig eine Person um alles: die Konstruktion, den E-Plan, kurze Beschreibungen. Es sollte aber immer das Vier-Augen-Prinzip gelten, also immer eine zweite Person involviert sein, die mal drüber schaut oder gegenliest.
Neue Verordnungen werden häufig mit Schulungsmaßnahmen gepusht. Warum sind sie kein großer Freund von klassischen Schulungen?
J. Müller: Unsere Erfahrung zeigt: Wenn KMU-Vertreter an einer halbtägigen Schulung teilnehmen, haben sie in kürzester Zeit allgemeingültiges Wissen erlangt, jedoch fehlt die Anwendbarkeit des Gelernten in der praktischen Umsetzung. Wir arbeiten daher ausschließlich mit Workshops, in denen wir am Beispiel arbeiten und Kundenprojekte beleuchten. Hier können wir konkret ansetzen, ermöglichen Praxistransfer und sorgen so für nachhaltigen Wissenserwerb am praktischen Beispiel.
Wie wird dieser Ansatz von KMU angenommen?
J. Müller: Unsere Kunden schätzen genau diese Hands-on-Mentalität und unsere langjährige Erfahrung aus der Praxis heraus. Einer meiner ersten Sätze ist meistens: „Schicken Sie uns bitte Ihre Projektdaten durch. Ich muss verstehen, wo wir anfangen.“ Viele Dienstleister liefern gewissermaßen eine Blackbox. Wir hingegen möchten unsere Kunden befähigen und gemeinsam mit ihnen die Projekte besprechen und sie selbst einschätzen lassen: Kann ich das selbst machen oder brauche ich externe Unterstützung? Wir gehen an die Maschine, schauen zusammen mit dem Kunden in den Rechner und bilden das Fundament, dass jeder weiß, was zu tun ist. Unsere oberste Zielsetzung ist also Wissenstransfer, sodass Kunden im ersten Projekt vielleicht noch bis zu 100% Unterstützung brauchen, in einem nächsten Projekt dann aber die begleitende Online-Betreuung oder ein kurzer Call ausreicht.
Und der Safety Dialog liefert dafür erste Impulse?
J. Müller: Das ist unser Ansatz. Häufig sind unsere Kunden überrascht, wie viele Dokumente und Infos online zu finden sind. Checklisten etc. sind oft sogar frei verfügbar und enthalten relevante Links, so dass zielgerichtet weitergearbeitet werden kann. Oft zeigt sich, dass man viel selbst machen kann. Auch die erfolgreiche Umsetzung einer CE-Kennzeichnung erfordert Praxis-Know-how sowie Fachwissen in der Maschinensicherheit. Wir begleiten unsere Kunden bei ihrem Projekt und geben ihnen die Gewissheit, dass zu 100 % alle gesetzlichen Anforderungen für Hersteller sowie Betreiber erfüllt werden. Des Weiteren bieten wir neutrale Gutachten und Bewertungen zu verschiedenen Aspekten an: Ist der Stand der Technik erfüllt? Wurde ein Retrofit umgesetzt und entspricht dies den aktuellen Anforderungen? Wurde eine Maschine zur Eigennutzung selbst entwickelt – und ist man dann plötzlich Hersteller? Sind alle technischen Unterlagen vollständig und die komplette Dokumentation vorhanden?
Wieviel Prozent der aktuell gültigen Richtlinie werden von der neuen MVO abgedeckt?
J. Müller: Meine Einschätzung wäre, dass 75 % bis 80 % der MVO in der aktuellen Richtlinie bereits vorhanden sind. Die neue MVO fokussiert sich dabei vor allem auch auf KI-Systeme, die für die Maschinensicherheit relevant sind. Maschinelles Lernen und Cybersecurity spielen beim Retrofit jedoch eher keine Rolle. Und trotzdem gilt auch für Kunden, die in Sachen Richtlinie relativ sattelfest sind: Sie setzen ein identisches Projekt um und – hoppla – die neue MVO bringt plötzlich ganz andere Anforderungen und Prozesse mit sich. Das ist auch für uns eine Lernkurve. Die meisten Inhalte sind zwar bekannt, aber jetzt in anderer Reihenfolge oder es sind einfach ein paar Teilaspekte hinzugekommen, auf die derzeit noch keiner achtet.
Zum Abschluss noch Ihre Einschätzung als Experte: Wie brisant ist das Thema neue MVO aus Ihrer Sicht?
J. Müller: Das Thema Maschinensicherheit ist - leider - in vielen Fällen reaktiv. Wenn uns jemand anruft, dann ist meistens irgendwas passiert, was durch vorausschauendes Handeln hätte vermieden werden können. Gerade deshalb ist es so wichtig, sich frühzeitig zu informieren, welche Anforderungen gerade im Bereich Retrofit den eigenen Betrieb betreffen.
Was sind die Konsequenzen, wenn gegen die MVO verstoßen wird?
J. Müller: Die neue MVO ist ein Gesetz. Man unterscheidet also zwischen grobe Fahrlässigkeit, Fahrlässigkeit und Vorsatz. Vorsatz ist dann gegeben, wenn ich Kenntnis von etwas habe, das eine Gefahr für Leib und Leben birgt, ich es aber trotzdem laufen lassen. In diesem Fall fragt die zuständige Behörde: Warum ist der Arbeitsunfall passiert? Ist die Maschine manipuliert worden, hat der Betreiber einen Umbau getätigt oder ist die Maschine bereits im Auslieferungszustand nicht sicher gewesen und der Hersteller hat ein nicht-konformes Produkt in den Verkehr gebracht? Vorsatz wollen wir als Sachverständige nie erleben. Und deshalb ist unser Ansatz klar und wir raten jedem KMU dazu, im Safety-Segment lieber mehr zu tun als zu wenig.
Backgrounder
Jens Müller ist Gründer und Geschäftsführer von „Müller & Partner Sachverständige“ und verfügt über 25 Jahre Praxiserfahrung im Maschinenbau und der Automatisierung. Einer seiner Schwerpunkte sind Roboterapplikationen (ISO 10218-2) und integrierte Fertigungssysteme (ISO 11161). Außerdem ist er nach ISO/IEC 17024 zertifizierter Sachverständiger für Maschinensicherheit / CE sowie für Roboter und Handhabungssysteme, Fachkraft für Arbeitssicherheit (BG ETEM), geprüfter Sachverständiger für Arbeitssicherheit (BDSF) und als Certified Machinery Safety Expert (TÜV Nord), kurz CMSE, im Einsatz. Gemeinsam mit seinem Partner Igor Osnizki bietet Jens Müller Maschinenbetreibern die Dienstleistung „Safety Dialog” an, die auf der Conrad Sourcing Platform gebucht werden kann und die Unternehmen praxisnah bei der Optimierung ihrer Maschinensicherheit unterstützt.