Der digitale Zwilling im Produktlebenszyklus

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Bild 4: In Analogie zu den Zielen im digitalen Engineering – der Reduzierung der Time-­to-Market – liegt das Ziel des Vertriebs in der kürzeren „Time-to-decision“ – also einer verkürzten Zeit bis zum Auftrag. Gleichzeitig muss die Komplexität der Lösungsfindung reduziert werden (Quelle: Lenze Automation GmbH)

Der digitale Zwilling spielt in seinen unterschiedlichen Ausprägungen über alle Phasen im Produktlebenszyklus eine Rolle. Als zentrale Klammer um alle Informationen und Modelle einer Komponente, einer Maschine oder einer ­Anlage dient der digitale Zwilling verschiedensten Beteiligten als Anlaufstelle und Datenablage.

Eine besondere Herausforderung ist es, möglichst früh in der Entstehungsphase einer Maschine Aussagen zu treffen, um Entscheidungen herbeizuführen. Dies kann beispielsweise durch eine technische Bewertung und zum anderen durch eine reine Visualisierung des Lösungskonzepts erfolgen. Neben dem eigentlichen digitalen Engineering-Prozess wird somit ein vorgelagerter digitaler Vertriebsprozess benötigt, in dem das Konzept einer Maschinenlösung erarbeitet wird. Eingesetzte Werkzeuge müssen hierbei zwei Ziele ­erfüllen: Zum einen muss die Komplexität so weit heruntergebrochen werden, dass der Vertrieb ohne direkte Beteiligung des Engineerings Lösungskonzepte mit dem Kunden ausarbeiten kann. Zum anderen soll die Zeit für die Konzept­erstellung wesentlich reduziert werden. Dies kann durch intelligente Tools oder vereinfachte, leicht einsetzbare ­Modelle erreicht werden (Bild 3 und 4).

Beispielsweise setzt Krauss-Maffei für automatisierte ­Anlagen mit Spritzgussmaschinen Lösungen von Dualis und Visual Components ein. Die Visualisierung von Anlagen dient der Unterstützung von Marketing und Vertrieb und fungiert als Entscheidungshilfe sowie Bindeglied zum Kunden [5].

Sichere Entwicklung mit virtueller Überprüfung

Die zunehmende Komplexität technischer Anlagen und ­steigende Marktanforderungen führen dazu, dass die Entwicklung mit Werkzeugen unterstützt werden muss, welche die Sicherheit erhöhen und gleichzeitig die Effizienz sicherstellen. Virtualisierte Iterationsschritte im Entwicklungsprozess dienen dazu, Kosten und Risiken während der Entwicklung und bei Tests an realen Produktionsanlagen zu senken. Hier gilt das Prinzip „Fail fast & cheap“: Wenn schon Rückschläge in der Entwicklung unvermeidbar sind, sollten diese möglichst schnell und ohne einen hohen monetären Einsatz identifiziert werden.

Um dies zu erreichen, muss der ­jeweils aktuelle Entwicklungsstand kontinuierlich über das gesamte Projekt erfasst, überprüft und virtuell ­getestet werden. Hierfür ist es erforderlich, dass unterschiedliche Domänen wie die mechanische und elektrische Konstruktion sowie die Softwareentwicklung an einem gemeinsamen ­Datenstamm – dem digitalen Zwilling – arbeitet. Dadurch können zum ­einen Änderungen wie der Einsatz einer ­anderen Motorenreihe frühzeitig anderen Entwicklungsabteilungen bekannt gemacht und dort berücksichtigt werden. Zum anderen können die im digitalen Zwilling hinterlegten Informationen genutzt werden, um den Entwicklungsstand anhand eines digitalen Prototyps virtuell zu testen. Technische Lösungen einzelner Aspekte dieses Ansatzes stellen beispielsweise der Mechatronic Concept Designer von ­Siemens [6], Syngineer von Eplan [7] oder Machineering für Anlagen dar.

Während für eine einfache Verhaltensmodellierung einer Maschine oder Anlage ein Steuerungsemulator ausreichend ist, wird für eine realitätsnahe Erprobung der Steuerungssoftware in der Regel eine virtuelle Steuerung des jeweiligen Herstellers benötigt. Dies liegt daran, dass herstellerunabhängige Emulatoren zumeist nur eingeschränkt zur Ver­wendung der originalen Programme geeignet sind. Entsprechende Soft-SPS werden von verschiedenen Herstellern angeboten.

Virtuelle Inbetriebnahme

Die virtuelle Inbetriebnahme einer Maschine stellt die ­finale Überprüfung einer Maschine vor der physischen Realisierung dar. Ziel ist es, ein möglichst umfassendes Bild über das spätere Maschinenverhalten zu gewinnen und dieses mit den Anforderungen des Kunden zu spiegeln. Hierzu wird in der Regel der durch den digitalen Zwilling repräsentierte virtuelle Prototyp der Entwicklung verwendet. Neben einer rein virtuellen Inbetriebnahme können auch durch Hardware-in-the-Loop reale Komponenten wie die Steuerung mit der entsprechenden Steuerungssoftware erprobt werden. Dies erlaubt ein virtuelles Einfahren der Maschine oder eines Prozesses, um einzelne Geräte- oder Prozessparameter vorab zu optimieren.

Ein weiteres Anwendungsfeld entsprechender Maschinen- und Anlagenmodelle stellt die virtuelle Schulung von Maschinenführern dar. Der Einsatz umfangreich geschulten Personals kann die Hochlaufzeit (Ramp-up) während der realen Inbetriebnahme reduzieren.

Inbetriebnahmen sind traditionell von dem Bild geprägt, dass hier die Theorie die Praxis trifft. Da ein Modell wahrscheinlich nie exakter sein wird als sein physisches Ebenbild, bleibt die Inbetriebnahme auch zukünftig noch ein iterativer Prozess – allerdings mit besseren Startwerten und Werkzeugen für eine zielgerichtete Optimierung. Die vorgelagerten virtualisierten Erprobungsprozesse vor der physischen Inbetriebnahme führen zu einer besseren Ausgangslage. Die ­Bereitstellung relevanter Informationen zum erwarteten ­Maschinenverhalten durch den digitalen Zwilling erlauben eine effizientere Fehlersuche und Parameteranpassung. Wichtig: An dieser Stelle endet das Leben des digitalen ­Zwillings nicht. Alle – sei es physisch oder parametrisch – Änderungen während der Inbetriebnahme an der Maschine müssen in den digitalen Zwilling zurückgeführt werden.

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